Na, wie war’s im Osten, in der ehemaligen DDR? Das neue Heft der Positionen erscheint die Tage – zum Thema ”Made in the DDR”. Zum Start veröffentlichen wir hier, nur im Web, ein Stadtporträt über Berlin. Aus ihren persönlichen Erfahrungen heraus skizzieren die Soziologin Yana Milev und der Musiker Philipp Beckert die Zeit um die Wende; eine turbulente und umbrechende Zeit für sowohl die allgemeine Stadtkultur als auch Musiklandschaft, was bis heute Berlin stark prägt. ”Das Sound-Gelände Berlin” – von dem diese Zeitschrift auch ein paar Quadratmeter einnimmt – ist eine Einleitung und Einladung zum neuen Heft 127, in dem es neben Beobachtungen und Reflektionen einiger wichtiger Protagonist*innen auch ein weiteres Stadtporträt zur Karl-Marx-Stadt Chemnitz gibt.

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Das Sound-Gelände Berlin

von Philipp Beckert & Yana Milev

Club-City                                                                      

Von Berlin geht eine Verheißung aus, das hat sich weltweit herumgesprochen und lässt entsprechend internationales Publikum in die Stadt strömen, spätestens seit den 1990er Jahren. Andere sagen, das war schon immer so – Berlin eine Metrozone oder ein Melting-Pott, in dem die Bevölkerung schneller wechselt als woanders das Wetter, und wo die Sounds schneller loopen als sonstwo auf der Welt.

Berlin ist eine real existierende Stadt im Nordosten Deutschlands, man kann auch sagen, ein real existierendes Sound-Gelände mit Narben, diversen Bubbles, Kiezen, Milieus und Szenen, das sich in einem andauenden Treibsand befindet. Nach ein paar Jahren, ach wo, ein paar Wochen genügen schon, und man vermisst das alte Fahrwasser. Andere sagen, man gerät in Berlin immer wieder in irgendwelche und andere Wasser und findet immer Anschluss. Trotzdem, auch wenn eine Stadt namens Berlin geografisch existiert, ist man inmitten dieser angekommen, beginnt man zu schwimmen, oder zu rudern, jedenfalls hat Berlin viel mit Wasser zu tun. Oberwasser, Unterwasser oder Soundwasser, man gerät schnell in alle möglichen Etagen der Gewässer und von dort aus schnell wieder zurück, an irgendwelche Ufer, Trockengelände oder Kunststrände. Strandbäder gibt es viele in Berlin, begehrt sind vor allem die Trinkstrände der Freischwimmer*innen und Tangotänzer*innen, oder die Strandbäder in den Kunstbezirken. Entlang der Spree-Kanäle blüht davon eine Menge Strandflair bis hin zu den Seen und zurück nach Neukölln in die U-Bahn. Das lieben die Leute, deshalb kommen sie her. Nachtstrände und Nacktstrände, ob bei Regen oder Sonnenschein, im Oberholz oder Unterholz, zu Drum ’n’ Bass oder Pommes Schranke. – Berlin ist ein turbo-urbanes Sound-Gelände!

»Ich bin ein Berliner« heißt übersetzt, seine Identität aufzumischen – neu zu kreieren.

Als der US-Präsident und Pop-Ikone J.F. Kennedy 1963 am Brandenburger Tor die Feststellung »Ich bin ein Berliner« machte, kreierte er das korrekte Branding für eine Existenzform in einer Metrozone des permanenten kulturellen Ausnahmezustands. David Bowie und Iggy Pop folgten diesem inneren Bekenntnis und nahmen 1976 hier ihre vielleicht beste Alben auf. Depeche Mode, Nick Cave, Crime & the City Solution waren die in den 80er Jahren musikalisch inspirierende Neu-Berliner*innen. Eine gewaltige Welle außerirdisch guter Berliner*innen strandete nach dem Fall der Mauer an der Spree: Peaches, Miss Kittin und Stereo Total, um nur einige kurz herbei zu nennen. Berlin wurde seit dem JFK-Label die große Spielwiese für Künstler*innen aus allen Ländern der Erde und Provinzen Deutschlands. »Ich bin ein Berliner« heißt übersetzt, seine Identität aufzumischen – neu zu kreieren. Jede*r ist eine Berliner*in, die mit Rolleköfferchen auf dem Rosenthaler Platz ankommt, das steht schon mal fest, eine ultimative Neuberliner*in, weil sie sich sofort so fühlt, weil das Echo des JFK-Outings immer noch nachhallt, ja weil es tatsächlich noch hörbar und allen ins Gesicht geschrieben steht. Sie ist nicht unbedingt willkommen, die Neuberliner*in, und wird trotzdem mitgerissen – in die Abwasser und Aufwasser. Die Neuberliner*in wird bald baden gehen und ihre eigenen Strände finden. Überall ist Robinsons Bucht, die Clubs der 90er in Mitte, die Parties der 00er zwischen Friedrichshain und X-Berg Kotti, die Ateliers, Studios und Produzent*innengalerien. Alles geht, alles fließt, »Arm, aber sexy«. Und bald ist die Neuberliner*in eine Ex-Berliner*in, die ihr Gerücht weiterträgt. Für die neuankommenden »Ich bin eine Berliner«-Besucher*innen und -Künstler*innen gibt es mittlerweile das Handbuch Ich bin ein Berliner Buch! Das Mitmach-Stadt-entdecken-Kaputtmach-Buch und andere Guides wie Finding Your Feet in Berlin – A Guide To Making A Home In The Hauptstadt.

Manchmal werden die Leute sentimental, dann schwärmen sie von den alten Zeiten. Von den Zeiten als es noch die Mauer gab, von Westberlin mit SO36, Tempodrom und Ex’n’Pop, von Ostberlin mit den Probekellern unter Strom in Prenzlauer Berg, den Wohnungspartys, die sich zwischen 23:00 und 1:00 leerten, weil die Hälfte schnell mal ›Rüber‹ musste. Von den Zeiten als es noch richtige, also Alt-Berliner Kneipen gab, wie bei Heinz und Inge an der Weinmeisterstrasse, oder die Grüne Hölle in Prenzlauer Berg. Dort wurde gegrölt, gejohlt und geschunkelt. Es war der Sound von Arbeiter*innen und Kerls. Was heute nicht mehr hörbar ist, wurde entweder abgerissen, neu gestylt für Fahrradshops und Turnschuhe, oder war einfach politisch nicht korrekt, weil sexistisch. Das ist das Flair der Neuberliner*innen im Osten der Stadt – ein Flair des Vertreibungs-Chick.

Alleine nur der frühmorgendliche Gang durch die Toreinfahrten war eine Soundschleife aus mehreren Himmelsrichtungen in eine unbekannte Soundtrommel hinein.

Wie war es doch, als es noch Loveparade, Motte und Westbam gab, E-Werk und Tresor, als durch den Prenzlauer Berg noch keine Vans fuhren und die Wohnungen noch nicht von Süddeutschen gekauft wurden, als das White Trash noch auf der Schönhauser war, der IM Eimer noch auf der Rosenthaler, schräg gegenüber der Bodyguard vom Eckladen Delicious Doughnuts, und Sniper noch in den Hackeschen Höfen einmal schräg gegenüber von Berlin-Moskau, noch mal schräg gegenüber vom Eschloraque und schräg unter Elektro Lux, dem Luxus Popladen von Lisa Junghans. Alleine nur der frühmorgendliche Gang durch die Toreinfahrten war eine Soundschleife aus mehreren Himmelsrichtungen in eine unbekannte Soundtrommel hinein. Wie war es doch, als es noch den Mauerpark gab mit dem Open-Air-Karaoke von Joe Hachiban und den grandiosen Freestyle-Auditions. Wie war es doch, als Blixa Bargeld noch schlank und stoned durch Schöneberg tigerte, bevor er in der Mulackstrasse in Berlin-Mitte sesshaft wurde. Wie war es doch, als die Katermukke und Kater Blau am Holzmarkt 25 mehrere Tage durchmuggten und als das Berghain von Ostkreuz nach Westkreuz vibrierte.

Die Alten Berliner Zeiten sind immer die guten Zeiten gewesen und trotzdem sind sie immergleich im Treibsand. Wenn JFK das Brand »Ich bin eine Berliner!« erschuf, wusste er was er sagt, denn schließlich ist Amerika eine ganze Nation mit nahezu Einhundert Prozent Migrationshintergrund, ganz gleich wie Berlin mittlerweile auch. Ich bin eine Berliner*in heißt: Global@Home in Berlin, oder Berlin@Home. Die Clubszene ist ein Bekenntnis an ein Berlin@Home im Treibsand, im Sound-Transit, zwischen Alt-Inventar und Exterritorialität der Ex-Berliner*innen, Neu-Berliner*innen und Ur-Berliner*innen, wie nirgendwo sonst.

Kunsthaus Tacheles Oranienburger Strasse, Berlin-Mitte ©Stefan Schilling, 1992
Szenenwechsel– Soundwechsel
Neue Musik I: Industrial, Machine Noise & Fluxus

Der Osten verschwand und mit ihm seine Sounds. Wir zogen von Dresden nach Berlin und damit nicht nur in eine größere Soundstadt, sondern überhaupt in ein Sound-Gebilde aus Clubs, Labels und Läden. Wir fanden die Gelbe Musik und Staalplaat, Gordon Monahan, Arnold Dreyblatt und Benoît Maubrey zwischen Bethanien und Tacheles.        

Die Gelbe Musik war eine ab 1981 von Ursula Block Plattenladen-Galerie mit einer exzellenten Auswahl an CDs experimenteller und Neuer Musik. Avantgarde, Noise, John Zorn, Karlheinz Stockhausen, John Cage – dafür stand die Gelbe Musik und galt als Berliner Gegenstück zur Other Music in New York. 2014 hat die Gelbe Musik dicht gemacht. Damit ist ein stückweit kulturelles Sound-Erbe in Berlin weggebrochen. Staalplaat schlug ebenfalls in den 1990ern in Ost-Berlin auf und öffnete hier seinen Laden mit Industrial, Ambient und Dub. Beeindruckend war hier Muslimgauze, das Projekt von Bryn Jones. Gordon Monahan, ein kanadischer Pianist und Komponist kam mit einem DAAD-Stipendium in den 1990ern nach Berlin und blieb bis 2006. Seine Sound-Experimente basieren auf Installationen aus Objektkunst und durch sie erzeugte Klänge. Monahan nennt das: »computercontrolled mechanical sound-environments«. Die Vorlagen findet er bei John Cage, dessen Werke Monahan ebenfalls aufführte. Laura Kikauka, die Partnerin Monahans, betrieb The Glowing Pickles, einen elektronischen Super-Store, in dem alle Sorten von Trödelobjekten eine elektronisch betriebene Performance aufführten. Arnold Dreyblatt, der ein Kompositionsstudium beim legendären LaMonte Young in New York absolvierte, kam 1984 nach Berlin und blieb. Dreyblatt erregt 1995 und 1996 mit Who’s Who in Central & East Europe 1933 in Berlin und Dresden kolossales Aufsehen. Seine Komposition ist den Verfolgten des Nazi-Regimes gewidmet, den deportierten, emigrierten und exilierten Jüd*innen aus Zentral- und Osteuropa. Die konzertante Multi-Media-Aufführung integrierte Film, Sprecher, Sänger, Archiv-Installationen. Das Orchestra of Exciting Strings mit der New Yorker-Sängerin und Performerin Shelley Hirsch als Frontfrau bleibt unvergessen. Bereits Mitte der 1980er zog es den US-amerikanischen Medienkünstler Benoît Maubrey nach Berlin. Er war dann mit Audio Ballerinas 1990 erstmalig im vereinigten Berlin zu sehen, auf der »Urbane Aboriginale«. Maubrey wurde weltweit im elektronischen Soundkontext bekannt durch seine Podien bei der Ars Electronica, dem Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) oder den Launches der Japanische Electronic-Tycoone. Nach den Audio Ballerinas kamen die Audio Geishas. Ballerinas wie auch Geishas bieten mobile Konzerte über ihre verkabelten Plastik-Tutus. Sie erinnerten kurioserweise an Karlheinz Stockhausens Helikopter-Streichquartett, dessen Uraufführung 1996 beim Holland Festival in Amsterdam mit dem Arditti Quartett in Hubschraubern der Niederländischen Luftstreitkräfte stattfand.              

Wer sich zu DDR-Zeiten in die Subkultur begab, um dort Klartext zu reden, musste dies nach der Wiedervereinigung genauso tun.              

Zwischen Kunsthaus Bethanien und Kunsthaus Tacheles lag im Berlin der 1990er Jahre die Achse des Elektro & Metal-Fluxus. Das Ost-Berliner Kunsthaus stieg 1990 aus den Trümmern der Wiedervereinigung als Utopia auf, um zu retten, was noch zu retten ist, an Freigeist und Freisound. Die Hochburg schräg gegenüber von der Jüdischen Synagoge auf der Oranienburger erhielt einen hebräischen Namen: Tacheles, Klartext. Wann auch immer, Klartextreden ist eine Guerilla-Strategie. Wer sich zu DDR-Zeiten in die Subkultur begab, um dort Klartext zu reden, musste dies nach der Wiedervereinigung genauso tun. Denn wer der Globalmarktwelle eines alles ertränkenden Neoliberalismus entkommen wollte, ging ins Tacheles – gleich um die Ecke der senkrecht gestarteten Kunst-Bonzen-Meile in der Auguststrasse. Heute gehört das Tacheles einer gewissen Perella Weinberg Real Estate (PWRE), wird von den Schweizer Star-Architekten Herzog & de Meuron luxussaniert und von Engel&Völkers verwaltet. Creative City Style nennt man das unbezahlbare Kreativleben ganz auf der Linie von Industrie 4.0 in der neuen Metropolregion Berlin/Brandenburg. Die Globalmarktwelle der Kreativindustrie hat gesiegt, denn auch das Postfuhramt mit der einstigen wunderbaren Rodeo-Bar in seiner Kuppel, wie auch alle anderen umliegenden Gebäudekomplexe, mussten der kosmopolitischen Global-Hegemonie weichen. Damit sind die wunderbaren und kreativen Jahre der Avantgarde in Berlin Mitte endgültig tot.

Szenenwechsel– Soundwechsel 
NeueMusik II: Minimal & Strings

Die 1990er Jahre waren die Zeit der Minimal Euphorie. Steve Reich, Michael Nyman und Philip Glass – seine Opern, seine Streichquartette. 1990 war Alexander Bălănescu in Dresden, da waren wir schon T.E.C.C., vier Mitglieder der Dresdner Philharmonie. Wir spielten als TECC-Quartett 1996 mit BEOTON unsere erste CD in der Denkmalschmiede Höfgen GmbH ein: Philipp Beckert, 1. Violine, Constanze Sandmann, 2. Violine, Heiko Mürbe, Viola und Clemens Krieger, Violoncello.

Anfang und Mitte der 1990er fand in der Oderberger Strasse in Prenzlauer Berg der Nachtbogen statt, den der Bildhauer Wolfgang Krause organisierte. Hier versammelten sich mindestens einmal im Jahr Klangkünstler*innen wie Gordon Monahan, Laura Kikauka, Arnold Dreyblatt, und andere zu ganznächtlichen Open-Air Events. Die String Connection, mit dem Bildhauer Krause bereits schon in Dresden begonnen, wurde in der Oderberger fortgesetzt. Hierbei wurden die Fingertuschzeichnungen von Wolfgang Krause zu Partituren für den Geigenton. Mit Video wurde die Aktionszeichnung auf die Wand projiziert und simultan zur Projektion entstand der Ton. 1999 war ich bereits drei Jahre Mitglied der ersten Geigen im Rundfunk Sinfonieorchester Berlin (RSB) als Ultraschall Berlin – Festival für Neue Musik von Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur ins Programm ging. In den ersten Jahren waren die Sophiensaele in der Gipsstrasse Austragungsort. Hier spielte ich die Uraufführung der Komposition von Orm Finnendahl Kommen und Gehen für Tonband und Violine. Das war dann schon nach der Jahrtausendwende, 2003. Ich gründete mit Kolleg*innen des RSB 2005 das BQB (Beckert Quartett Berlin), daraus erwuchs 2010 das East Side Oktett, das sich aus Musiker*innen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSB) zusammensetzt. Die Aufführung des Schubert Oktetts war ein Meilenstein in der Zusammenführung mit den hochkarätigen Bläsersolisten des RSB. Kombiniert hatten wir den Schubert mit einem Stück des Weimarer Komponisten Mario Wiegand, der dieses eigens für uns, das East Side Oktett schrieb. Seine Komposition, Dunkle Lichter, wurde dann auch der Titel unserer CD.

Szenenwechsel– Soundwechsel
Corona: Epilog

Seit einem Jahr pfeift der Wind durch die Läden. Aufführungen wurden ins Internet verlegt. Konzerte finden als Zoom-Events statt. Labels und Plattformen, Festivals und Konzertsäle gibt es nur noch als virtuelle Einrichtungen. Auch wenn Berlin der Standort einer global prosperierenden Big Tech Elite ist, müssen wir sagen, dass nichts die reale Begegnung und die reale Musik ersetzt. Kein sophisticated Online-Lab ersetzt, was inzwischen verloren gegangen ist: der physisch erzeugte Raumklang.

Der Artikel ergänzt online das Dossier "Made in the DDR" im Heft 127 der Positionen.

Fotocredit Opener: Yana Milev & Philipp Beckert im Museum der Bildenden Künste Leipzig im Rahmen der Ausstellung 40jahrevideokunst.de:revision.ddr © AOBBME-Archiv, 2006

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Philipp Beckert ist Musiker, Fotograf und Ethnograf. Er ist erster Geiger im Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) sowie in kammermusikalischen und solistischen Projekten aktiv. Weiter ist er Gründungsmitglied von NUXN Photos –Plattform für Fotografie und Visuelle Soziologie sowie im Fachbeirat des publizistischen Projekts »Entkoppelte Gesellschaft«.

Yana Milev ist habilitierte Soziologin, Ethnografin und Kuratorin. Sie ist Gründerin der Plattform AGIO | Gesellschaftsanalyse + Politische Bildung und seit 2017 Leiterin des Forschungsprojekts »Entkoppelte Gesellschaft – Ostdeutschland seit 1989/90«, das auf eine mehrbändige Publikation angelegt ist.