I MAINSTREAMING
Marta Beszterda van Vliet Auf Traktoren und abseits des Kanons – Komponistinnen der elektronischen Musik des 20. Jahrhunderts in Osteuropa
Katja Heldt 100 Jahre Else Marie Pade – Von der vergessenen Pionierin zur gefragten Ikone
Sune Anderberg (Wieder) eine Wiederentdeckung von Else Marie Pade
Jo Hutton Der langsame Satz – Die Musik von Éliane Radigue
Rita Argauer »I’m in charge« – Eine Würdigung der Komponistin Therese Birkelund Ulvo
Leon Ackermann Idealismus der Schwärze – Replik auf Christoph Haffter
Patrick Becker Cage als Sündenbock
II SPECIAL
Till Bovermann Wicked Problems in Kilpisjärvi – Zusammenhänge zwischen scheinbar entfernten Orten und künstlerischen Praktiken
III POSITIONEN
MaerzMusik, Berlin; MadeiraDig, Madeira; Meredith Monk; Maria de Alvear; Space21, Irak; INMM-Frühjahrstagung, Darmstadt; Oscillations, Berlin; Acht Brücken, Köln; Steffen Krebber; Wittener Tage für neue Kammermusik; Ensemble Nikel; Draksler-Eldh-Lillinger; Alain Roche; Jim C. Nedd; Ákos Rózmann; Chiku Komiya, Cornelius Cardew; Nomi Epstein / Paul Newland; Gibanja, Kroatien; Die Doppelgänger, Schwetzingen
Der Ruf nach einem Kanon, also die Zusammenstellung von mustergültigen Werken mit zeitüberdauernder Bedeutung, taucht immer wieder und in immer neuen Kontexten auf – besonders im Unterricht an Schulen und Hochschulen, aber auch bei der Verleihung von Preisen, der Veröffentlichung von Sachbüchern oder im alltäglichen Gespräch. Das Selbstverständnis vieler Sub- wie Hochkulturen basiert auf Kanons. Und jedes Mal, wenn eine Änderung dieses Selbstverständnisses, eine Öffnung des Mainstreams, eine Reflektion der blinden Flecken einer prinzipiell funktionierenden, aber vielleicht doch ächzenden Maschine gewünscht ist, wird auch am Kanon gerüttelt. Aktuelle Stichworte sind der Dekolonialismus oder feministische Perspektiven auf Musikgeschichte, die eine solche Irritation bewirken. BIPoC sowie FLINTA*-Personen rücken in den Fokus – und werden der neue Kanon?
Marta Beszterda van Vliet beschreibt in ihrem Essay die in der Kanonisierung auftretenden Paradoxien von Geschichtsschreibung wie folgt: Diese Form von Mainstreaming sei bloß ein »neuer Wein weiblicher Komponistinnen in den alten Schläuchen des bestehenden Kanons«, denn: »am Kanon selbst wird nicht gerührt.« Ist es also möglich einen Kanon zu schreiben, der sich selbst nicht vergisst? Was sind die alten wie neuen Ein- und Ausschlusskriterien dieser gleichsam alten wie neuen Listen von Held*innen? Ein Mainstreaming scheint unumgänglich.
Die Texte von Katja Heldt, die das Heft auch redaktionell mitverantwortet, und Sune Anderberg reflektieren die neuere Heroengeschichtsschreibung zur dänischen Komponistin Else Marie Pade. Jo Hutton wiederum probiert die Erzählung einer Geschichte von Éliane Radigue anhand ihrer technischen Geräte, Rita Argauer hat für den Arne Nordheim-Preis eine Würdigung der norwegischen Komponistin Therese Birkelund Ulvo verfasst – in der Textsorte wiederum ein klassischer Moment von Kanonbildung.
Leon Ackermann richtet sich mit seiner Replik gegen die These einer Kritik von Christoph Haffter in Heft #138, in der dieser Klaus Langs kompositorische Sprache verdächtig nahe am rechten Rand angesiedelt sah. Ursprünglich als thematisch verwandte »Position« geplant folgt darauf Patrick Beckers Besprechung eines neu publizierten querdenkerischen bis sogar neurechten Buchs, das versucht, den Kanon der Musikgeschichte und insbesondere John Cage als Anführer einer antidemokratischen Revolution linker Intellektueller umzudeuten.
Im Special werden diesmal Fragen an eine musikalische Ethik weitergeführt, die in Heft #129 und den Entwürfen einer Ethik der Improvisation als »Code of Silence« begonnen haben: Till Bovermann fragt nun nach den künstlerischen Handlungsräumen im Dialog mit der Natur.
Wir wünschen viel Spaß und Anregung beim Lesen des Hefts #140
Bastian Zimmermann, Katja Heldt, Patrick Becker & Andreas Engström