Positionen #125 – Kunst > Wirklichkeit

Tim Rutherford-Johnson   Pamela Z: ...Material, um das Werk daran aufzuhängen

Colin Lang   Hell for Leather – Metal als Kunstform

Jolinde Hüchtker   Fragile Solidaritäten – acting in concert in Witten

Friedemann Dupelius   New Ethnic Becoming – Schlaue künstliche Stimmen

Nico Sauer   Qu’est-ce que c’est »B-Musik« – Vorbei an einer neuen Musikphilosophie

Leon Ackermann   Ästhetische Autonomie und technische Reproduzierbarkeit

Patrick Frank   Wo bleibt denn da die Neue Musik?

YAN Jun   China: Keine Musik

Special: Lyrikdossier – Stille

Mit Gedichten von Klaus Anders, Norbert Lange, Lara Rüter, Ulf Stolterfoht, Max Czollek, Daniela Seel, Hans Thill, Mathias Traxler, Christiane Heidrich, Özlem Özgül Dündar, Uljana Wolf, Sonja vom Brocke, Tibor Schneider, Tim Holland, Michael Donhauser, Steffen Popp, Karla Reimert, Anna Hetzer, Titus Meyer, Charlotte Warsen, Georg Leß, Birgit Kreipe, Nora Zapf, Monika Rinck, Ozan Zakariya Keskinkılıç, Tobias Roth, Rike Scheffler, Rainer René Mueller |zusammengestellt von Tobias Herold und Peter Holland

Positionen    Gaudeamus Muziekweek; Borealis; Warschauer Herbst; Stefan Streich; Reflektor Manfred Eicher; B Free; Freies Musiktheater in Europa; Curating Diversity in Europe; Dark Spring; Intersonanzen; Elektropolis; Fiona Apple

EDITORIAL

In ihrer »Position« zum Borealis-Festival in Bergen, Norwegen bespricht Katja Heldt, jetzt rückblickend, eine der letzten Festivalausgaben im Bereich Neuer Musik, das noch so etwas wie einer alten Wirklichkeit zugerechnet werden; ganz kurz vorm Lockdown und den darauf folgenden Hygienekonzepten saßen dort noch Menschen nah beisammen und hörten, schauten, diskutierten. Die neue Wirklichkeit zeigt sich hingegen in den Texten von Sven Schlijper-Karssenberg zur Gaudeamus Muziekweek in Utrecht und von Tomasz Biernacki dem Warschauer Herbst: Musikfestivals finden statt, Menschen kommen online zusammen, Konzerte werden filmisch inszeniert. Leon Ackermann vertieft diese Perspektive in einem ausführlicheren Essay zu seiner »Küchenschau« der Wittener Tage für neue Kammermusik und Only Connect, »from a safe distance« ortlos in Norwegen.

Kunst > Wirklichkeit!? Wie verhalten sich die Künste? Sind sie nicht seit eh und je sowieso der Garant für eine bessere, größere…mehr Wirklichkeit? Geben die Beschränkungen einen neuen Anschub im künstlerischen Wirken? Fest steht, dass diese intensive Zeit des Alltags und Abenteuers, die die meisten nun erleben, die Wahrnehmung von Kunst nochmals intensivieren kann – sei es zum Beispiel die Stille zuhause, in den Flughäfen und vor Bühnen.

Im Special findet sich dazu eine von Tobias Herold und Peter Holland (beide veranstalten die im Club ausland stattfindende Reihe »Lyrik im ausland«) initiierte und mittels eines Calls kuratierte Sammlung an Gedichten zeitgenössischer Autor*innen. Das zunächst als innermusikalisch anmutende Thema der Stille bekommt hier sofort genuin materielle, soziale und politische Ausformungen.

So auch in den Haupttexten, wo zum Beispiel unser Autor Tim Rutherford-Johnson den Wirkpfaden der Künstlerin Pamela Z folgt; zwischen der Arbeit mit dokumentarischen Sprachmaterial bis hin zu konzeptionellen Settings, die diskriminierungserfahrene Menschen als Wirklichkeiten verhandelt. Jolinde Hüchtker interessiert sich daran anschließend für die Tendenz aktueller Festivals, sich selbst als einen Ort der Verhandlung für bessere Formen der Koexistenz zu betrachten, und porträtiert darin die in Witten stattfindende Reihe acting in concert. Der Spike-Redakteur Colin Lang bespricht anhand einer Installation von Banks Violette und Sunn O))) die Möglichkeiten des Genres Metal als Kunstform und dem Zusammenhang von brachialem Klang und materiellen, raumbezogenen, konkreten Gegebenheiten. Friedemann Dupelius fragt nach der besseren Wirklichkeit, indem er dem alltäglichen wie auch künstlerischen Phänomen synthetischer Stimmen folgt. Sie sprechen lassen tut Nico Sauer, der sich als Komponist lieber enthält und zusammen mit einigen KIs auf die Spuren einer neuen, prosaischen Musikphilosophie gegangen ist. Wir danken ihm auch für das bei dem Insta-Artist @thimeetris beauftragte Coverbild der aktuellen Ausgabe mit dem Titel: »Es gibt die, die wissen wie man über Musik spricht und es gibt die, die wissen wie man nicht darüber spricht.« Einen versponnenen, zugleich aber höchst kritischen Zugang zur Neuen Musik sucht Patrick Frank in seinem Versuch, der Szene einen Minderwertigkeitskomplex zu attestieren, mit dem der Konservatismus und das autoritative Gehabe in der Frage »Ist das noch Neue Musik?« etwas plausibler erscheint. Die Therapie folgt hoffentlich noch.

Als Teil unsere Serie zu spannenden Musikszenen weltweit, die wir im August-Heft mit Argentinien angefangen haben, hat diesmal YAN Jun einen aufschlussreichen Artikel zur Subkultur in China verfasst. Seit einigen Jahren treffen sich Komponierende und Musizierende nur noch in ganz kleinen Runden, meist privat, um ihre Arbeiten zur Aufführung zu bringen. Es mangelt an Orten, Geld; es sind die Zeiten von hartem staatlichem Neoliberalismus. Nach YAN gilt es in solch einer Situation, die »eigene Realität zu schöpfen und zu erfinden«.

Wir wünschen viel Vergnügen und Anregung bei der Lektüre und Sichtung des Hefts 125!

Bastian Zimmermann & Andreas Engström