Am 3. Mai fragte Max Nyffeler in einem Artikel für die FAZ: »Wie viel Freiheit erträgt die Neue Musik?« – und antwortete im Untertitel selbst: »In der Kunstsparte vollzieht sich ein Paradigmenwechsel: Nicht mehr die Ästhetik, sondern die politische Haltung steht im Vordergrund.« Seine These: mit dem ›Politisierungsdruck‹ gerate der »in einem aufgeklärten Bildungsideal wurzelnde Begriff einer Musik« in die Defensive; es läge an den Wortführern der akademischen Debatten und den Vermittlungspraktikern in [Hoch-]Schulen und Medien«, dem »wieder mehr Resonanz zu verschaffen.« Dieser Aufforderung will ich als Musikwissenschaftlerin und -journalistin nachkommen – allerdings ex negativo: denn jenem »in einem aufgeklärten Bildungsideal wurzelnde[n] Begriff einer Musik« weine ich kaum eine Träne nach.
Denn ja – dieser Musikbegriff ist weiß, eurozentrisch und männlich. Das so zu benennen mag manchen als ›woke‹ Political Correctness erscheinen – Nyffeler beklagt in seinem Text tendenziös die »polemische Zuspitzung in Gender- und Identitätsfragen« (denen sich unsere Kunstmusik als Inbegriff einer weißen und männlichen Leitkultur zweifelsfrei stellen muss). Darüber hinaus adressiert ein »in einem aufgeklärten Bildungsideal wurzelnde Begriff« von Musik ein längst überkommenes Ideal: den Humanismus, der den Menschen als Primus inter Pares überhöht, was in Hörweite von Klimawandel und Krieg, Krise und Künstl(er)i(s)chen Intelligenzen nicht mehr zeitgemäß erscheint. Geht es der Neuen Musik denn nicht gerade um kritische Zeitgenossenschaft und Teilhabe, will sie nicht im besten Falle sogar Zukunftsmusik sein?
Tatsächlich teile ich die Sorge von Max Nyffeler um selbstgerechte Populismen im Dienst einer übertriebenen Huldigung politischer Korrektheit; allerdings betreibt er selbst eine Art Cancel Culture, indem er seinen Text mit kritischem Bezug auf die redaktionelle Neubesetzung der Neuen Zeitschrift für Musik aufzieht – die »seit Kurzem von einer Redakteurin geleitet [wird], die ihre Masterarbeit über die Protestgesänge von Extinction Rebellion und Fridays for Future geschrieben hat«. Daraus und mit Verweis auf eine Reihe von Heftthemen und Artikeln leitet er die These ab, dass das »herrschende gesellschaftliche Klima« die Kunst »den neuen ökologischen Strategien« unterordne. Das ist unüberlesbar herablassend formuliert – indem er den Namen der Redakteurin (Sara Walther) nicht benennt, dafür aber die Ahnenreihe von Heftgründer Robert Schumann, über »bedeutende Musikschriftsteller wie Franz Brendel und Arnold Schering«, bis zu Karl Amadeus Hartmann und Carl Dahlhaus: Alles weiße Männer aus einer anderen Zeit.
Zurecht ja benennt Max Nyffeler die für die Musik und den Diskurs darüber bahnbrechenden »Umwälzungen im Medienbereich«: Das beginnt beim Zeitschriftensterben – dem sich die NZfM ebenso widersetzt, wie die Positionen mit ihrer Transformation zu einem Magazin, das ein tiefgreifendes sozio-ästhetisches Denken mit und über Musik mit ansprechendem Layout verbindet; darüber hinaus ist der Diskurs auf die Netzwerke und Kanäle des WWW abgewandert. Für manche Ohren mögen die musikalischen Memes und Reels wie der Untergang des Abendlandes klingen; ich erlebe darin auch unglaubliche Kreativität, lerne neue Arten des Hörens, Denkens und Wahrnehmens – das viele Komponierende inspiriert und herausfordert, deren Musik unmittelbar mit der Gegenwart korrespondiert, auch und nicht zuletzt in ästhetischen Belangen.
Und nein: Der mediale Aspekt, »mit dem die Musik unauflöslich verbunden ist«, die Auseinandersetzung mit den »Mittel[n] der digitalen Verarbeitung, Speicherung und Distribution«, die Nyffeler »in den akademischen Diskursen […] seltsam unterbelichtet« sieht, wird sehr wohl – und das intensiv – verhandelt. Allerdings selten aus der klassischen Musikwissenschaft heraus, die sich mehr als alle anderen klassischen Geisteswissenschaften gegen die Theorien und ›turns‹ medienkulturwissenschaftlicher Forschung sträubt. Ich bin nicht die Einzige, die deshalb ihr Heil in den interdisziplinär vernetzten und medienaffinen Sound Studies gesucht hat – wo der Fakt, dass heute »die meiste Musik über Lautsprecher und Kopfhörer gehört« wird, schon lange zum Diskurs gehört: von der Mobilisierung des Hörens durch tragbare Tonträger, über die kulturellen Bedeutungen von Soundfiles und Sampling, bis zu kritischen Reflexionen der Streaming-Kultur.
Weiter im Text stellt Max Nyffeler die »Gretchenfrage: Was hat Vorrang im musikalischen Diskurs, die analytische und deutende Untersuchung des Gegenstands Musik oder ihre (gewünschte) Funktion in der Gesellschaft?« Tatsächlich wurde diese Debatte schon einmal geführt: um 1968, als komponierende Kommunisten und Antifaschisten wie Luigi Nono und Hans Werner Henze die rote Fahne in Diensten des Zeitgeists hochhielten – wer würde diesen die ästhetische Differenziertheit absprechen? 1970 eskalierte die Debatte bei den Darmstädter Ferienkursen, als politisierte Teilnehmer:innen den Abbau von Hierarchien und eine Internationalisierung der eurozentrischen Marschrichtung der Avantgarde forderten – während Carl Dahlhaus (ähnlich wie heute Max Nyffeler mit seiner Rede von »Zerstreuung, Egokult und Gesellschaftstherapie«) die Meinung vertrat, dass ›Engagierte Musik‹ der künstlerischen Qualität schade und Gedankenlosigkeit drapiere. Ja: »Ein auf verbindlichen Normen beruhender Musikbegriff ist […] Vergangenheit.« Zum Glück, will ich meinen – denn Normativität re_produziert Machtgefälle: Diversität und Hybridität haben akademische und künstlerische Universalismen abgelöst und stellen die ohnehin unmögliche Objektivität infrage – mit subjektiven Zugängen zu Welt und Musik – die menschlich, aber nicht humanistisch sind.
Dieser Text wurde im Heft 136 publiziert.