Performance

Sun and Sea (Marina)

Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė & Lina Lapelytė

Biennale Venedig 2019

Im Hinblick auf den anhaltenden Performancetrend in der Kunst ist es nicht verwunderlich, dass zum zweiten Mal in Folge, nach Anne Imhofs Faust (2017), eine performative Arbeit den Goldenen Löwen in Venedig gewonnen hat. Was allerdings bemerkbar ist, ist dass beide Performances als Opern angekündigt und besprochen wurden. Sun and Sea (Marina) (2019) im litauischen Pavillon ist eine kollaborative Arbeit von Rugilė Barzdžiukaitė, Vaiva Grainytė und Lina Lapelytė, deren erste Version bereits 2016 während einer Residenz in Schloss Solitude in Stuttgart gezeigt wurde.

Die Künstlerinnen Rugilė Barzdžiukaitė, Lina Lapelytė, Vaiva Grainytė © Rasa Antanaviciute

Wie auch Faust, ist Sun and Sea (Marina) keine Oper im klassischen Sinne, sondern bedient sich einiger ihrer Elemente, während sie andere außer Acht lässt, und lotet aus, was eine zeitgemäße Oper sein kann. Dabei war die Gattung der Oper schon immer ein Anachronismus. Entstanden Anfang des 17. Jahrhunderts sollte durch diese Mischform aus Musik und Sprache die antike Tragödie nachempfunden und für ein aristokratisches Publikum inszeniert werden. Vergangenes wurde imitiert und in die Gegenwart gerückt, um bestehende Machtverhältnisse zu untermauern und auf der Bühne zu überhöhen.

»The King, at one and the same time, is the privileged viewer and the central hero in the tragedy.« (Philippe-Joseph Salazar: Idéologies de l'opéra, S. 29)

In vielen gegenwärtigen Operninszenierungen spiegelt sich dieser Grundgedanke wider. Mit pompösen Bühnenbildern, dramatischen Handlungssträngen und hohen Produktionsbudgets werden an vielen Häusern nach wie vor antike Tragödien für ein gutbürgerliches Publikum rauf- und runtergespielt.

Die Opernperformance Sun and Sea (Marina) tappt weder in diese Nostalgie-Falle noch folgt die Arbeit einer klassischen Operndramaturgie. Anstelle einer Unterteilung in Akte, wurde die einstündige Inszenierung als Loop gezeigt, sodass Besucher*innen gehen und kommen konnten. In Venedig, dem Disneyland schlechthin, aber auch dem Geburtsort der Komischen Oper, wurde das Stück in einem ehemaligen Marinegebäude am Rande der Arsenale gezeigt.

Dort blickten die Zuschauenden von einer umlaufenden Empore auf eine unwirklich reale Strandszene. Der Raum unten war wirklichkeitsgetreu ausgeleuchtet, die Szenerie wirkte wie in einem Diorama: Dreizehn Menschen in Badekleidung lagen und saßen auf Handtüchern, Kinder spielten im Sand, Hunde bellten, gelegentlich wurde Federball gespielt oder eine Schachfigur versetzt. Im Hintergrund war das rhythmische Rauschen der Wellen zu hören, zwischendrin auch ein Schnellboot oder Flugzeug. Manche der Strandbesucher*innen waren zu zweit, andere allein gekommen. Die künstliche Sonne machte ihre Körper schwitzen, es wurde sich mit Sonnencreme eingeschmiert. Träge und faul lagen sie am Strand und gaben sich dem Nichtstun hin, wie man das eben im Urlaub macht.

Dann fingen die Performenden an, zu singen. Eine* nachder* anderen* berichtete von persönlichen Träumen, Gedanken, Erinnerungen und Ängsten. Nach und nach nahmen die halbnackten Menschenkörper Gestalt an. Anstelle klassischer Gesangsstimmen hörte man eigene Stimmfarben und unterschiedliche Akzente, die die dargestellten Charaktere unterstrichen, darunter eine reiche Mutter, deren Sohn schon fast alle Meere bereist hatte, neben ihr ihr Mann, der seine Burn-Outs besang, ein Liebespaar, das die Fernbeziehung beklagte, eine Dritte, die über das verschmutzte Meer schimpfte.

Wie in einem Popsong, süß und lieblich, erfuhr man in Sun and Sea (Marina) von Gefühlen und persönlichen Geschichten, von Banalitäten und intimen Details. Die einzelnen Arien waren reduktiv gestaltet. Ihre Strophenstruktur erinnerte einerseits an die litauische Folklore, die traurige und bedächtige Melodien nachzeichnet, andererseits an den Intonationsvorrat der Popmusik.

Die geteilte Trägheit und Besorgnis der Strandbesucher*innen skizzierten Biografien, die auf ein größeres Bild verwiesen: Wie in jeder guten Oper, wurde auch in Sun and Sea (Marina) gestorben. Allerdings war es kein dramatischer Tod einer theatralen Figur, sondern ein sich langsam vollziehendes Sterben der Erde. Ernste Themen, wie Klimawandel und Artensterben, wurden durch Einzelbiografien und Nebenschauplätze erzählt, während auf den moralischen Zeigefinger, aber auch auf dramatische Operngesten verzichtet wurde. Die Gattung der Oper präsentiert sich hier nicht als Crème de la Crème der Bourgeoisie, die Vergangenheit in Stein meißelt, sondern zeitgemäß und wandlungsfähig; oder, wie es die Performenden im »Vacationer’s Chorus« bittersüß besingen: »Just Build Castles in the Sand.«

Diese Position wurde in Heft #122 veröffentlicht.

Bildcredit Headphoto © Martynas Norvaišas

Anneliese Ostertag
Anneliese Ostertag arbeitet als Dramaturgin, Kuratorin und Redakteurin. Ihre Recherche fokussiert sich auf archivarische Praktiken und die Schnittstelle von Kunst und Ethnografie. Sie ist Ko-Herausgeberin von en plein air – Ethnographies of the Digital (Spector Books, 2019) und schreibt zu Kunst, Performance und Netzkunst.